
Streit mit Polen wird für EU zur Zerreißprobe

Der Streit mit Polen über die Unabhängigkeit der Justiz wird für die Europäische Union zur Zerreißprobe: Auf dem EU-Gipfel in Brüssel machten Länder wie Belgien, die Niederlande und Österreich am Donnerstag Druck auf die Regierung in Warschau. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) rief auf ihrem vorerst letzten Gipfel als amtierende Bundeskanzlerin zu einem Kompromiss auf.
Der niederländische Regierungschef Mark Rutte betonte, die EU müsse gegenüber Warschau "hart bleiben". Er hatte sich mit den anderen Gründerstaaten Belgien und Luxemburg verabredet, den polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki zur Räson zu rufen.
Zugleich stärkte Rutte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in dem Streit den Rücken. Sie will Gelder in Höhe von 36 Milliarden Euro aus dem Corona-Fonds für Polen so lange zurückhalten, bis das Land die Rechtsstaatlichkeit achtet und Warschau unter anderem eine umstrittene Disziplinarkammer für Richter auflöst.
"Eine rote Linie wurde überschritten", sagte der belgische Regierungschef Alexander De Croo zu der umstrittenen Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober. Dieses hatte die EU-Verträge in Teilen für verfassungswidrig erklärt und den Vorrang des EU-Rechts gegenüber nationalem Recht verneint. Der neue österreichische Bundeskanzler Alexander Schallenberg betonte bei dem Gipfel: "Polen muss die finanzielle Drohkulisse, die da ist, sehr ernst nehmen."
Kanzlerin Merkel ermahnte die Mitgliedstaaten zu einer einvernehmlichen Lösung. "Eine Kaskade von Rechtsstreitigkeiten vor dem Europäischen Gerichtshof ist noch keine Lösung des Problems", betonte die dienstälteste europäische Regierungschefin, für die bei dem Gipfel laut Diplomaten eine Abschiedszeremonie nach fast 16 Jahren im Amt geplant war.
Der polnische Regierungschef Morawiecki bekräftigte bei dem Gipfel, sein Land werde "nicht unter dem Druck der Erpressung nachgeben". Sowohl Merkel als auch der französische Präsident Emmanuel Macron trafen sich bilateral mit Morawiecki, um ihn zu einer Einigung mit von der Leyen zu drängen.
Der ungarische Regierungschef Viktor Orban nahm Polen dagegen in Schutz. "Die Polen haben Recht", sagte er in Brüssel. "Das nationale Recht hat Vorrang." Das gelte überall dort, wo die Mitgliedstaaten Kompetenzen nicht ausdrücklich an die EU übertragen hätten.
Orban verhindert mit seinem Veto ein Verfahren, das zu einem Entzug von Stimmrechten für Polen führen könnte, also de facto zu einer Entmachtung im Kreis der Mitgliedstaaten. Stattdessen will von der Leyens EU-Kommission in einigen Wochen auf Druck des Europaparlaments einen sogenannten Rechtsstaats-Mechanismus aktivieren. Damit könnten Polen wie auch Ungarn Strukturhilfen in Milliardenhöhe gekürzt werden. Allerdings haben Warschau und Budapest vor dem Europäischen Gerichtshof gegen diesen Mechanismus geklagt. Das Urteil wird erst im Frühjahr erwartet.
Auf dem zweitägigen EU-Gipfel wollten die Mitgliedstaaten unter anderem auch über die drastisch gestiegenen Energiepreise, die Versorgung ärmerer Länder mit Corona-Impfstoffen und die Flüchtlingsfrage beraten.
Merkel drohte dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko mit neuen EU-Sanktionen. Die Europäer wollten damit deutlich machen, "dass wir diese Art des Menschenhandels von staatlicher Seite verurteilen".
Die EU wirft Lukaschenko vor, Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afrika mit falschen Versprechungen über die Grenzen von Polen, Litauen und Lettland nach Deutschland und in andere EU-Länder zu schleusen. Dahinter vermuten die Europäer Vergeltung für EU-Sanktionen wegen Menschenrechtsverstößen in Belarus.
Für Merkel war es der mehr als 100. EU-Gipfel. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will ihr am Dienstag die Entlassungsurkunde überreichen. Wenn die Bildung der Ampel-Koalition in Berlin wie geplant voranschreitet, könnte an dem nächsten EU-Gipfel Mitte Dezember bereits Olaf Scholz (SPD) teilnehmen.
(U.Stolizkaya--DTZ)