
Ex-Europaabgeordnete Kallas vor Regierungsübernahme in Estland

In Estland steht die liberale Ex-Europaabgeordnete Kaja Kallas vor der Übernahme der Regierungsgeschäfte. Ihre oppositionelle Reformpartei gewann die Parlamentswahl vom Sonntag laut offiziellem Endergebnis mit 28,8 Prozent und dürfte damit eine künftige Koalitionsregierung anführen. Das bisherige Regierungsbündnis von Ministerpräsident Juri Ratas verlor seine Mehrheit. Kallas zeigte sich offen für alle Koalitionsoptionen - mit Ausnahme der rechtspopulistischen Partei Ekre, die bei der Wahl stark zugelegt hatte.
Bislang regierte Ratas’ Zentrumspartei den kleinsten der drei baltischen Staaten gemeinsam mit den Sozialdemokraten und der konservativen Pro Patria. Die Zentrumspartei erreichte bei der Abstimmung vom Sonntag 23 Prozent. Auch die Koalitionspartner von Ministerpräsident Ratas verloren Stimmanteile: Pro Patria kam auf 11,4 Prozent, die Sozialdemokraten erzielten 9,8 Prozent. Ekre konnte mit 17,8 Prozent ihr Ergebnis mehr als verdoppeln.
Die von Kallas angeführte Reformpartei dürfte auf 34 der 101 Abgeordnetenmandate kommen, die Zentrumspartei nur noch auf 26. Ekre folgt mit 19 Abgeordneten, dahinter kommen Pro Patria mit zwölf und die Sozialdemokraten mit zehn Abgeordneten. Die Wahlbeteiligung lag bei gut 63 Prozent.
"Jetzt beginnt die wirkliche Arbeit, eine Regierung zu bilden und das Land mit Vernunft zu führen", sagte Kallas am Wahlabend dem Sender ETV/ERR. Die Ekre-Partei sei keine Option, ansonsten lägen aber "alle Koalitionsoptionen auf dem Tisch". Zugleich sprach Kallas von großen Meinungsverschiedenheiten mit der Zentrumspartei unter anderem bei Steuer- und Bildungspolitik.
Die 41-jährige Kallas ist die Tochter des früheren estnischen Regierungschefs und EU-Verkehrskommissars Siim Kallas, der seinerzeit ebenfalls Vorsitzender der Reformpartei war. Die ausgebildete Juristin wäre die erste Frau im Amt des Ministerpräsidenten in Estland. An der Spitze des baltischen Staats steht mit Kersti Kaljulaid bereits eine Frau.
Kallas hatte im Wahlkampf auf eine unternehmerfreundliche Kampagne gesetzt. Sie kündigte Steuersenkungen und Kürzungen bei der Arbeitslosenversicherung an, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen.
Die Reformpartei könnte eine Koalition mit den Sozialdemokraten und Pro Patria eingehen - oder aber eine Art große Koalition mit der Zentrumspartei. Der bisherige Regierungschef Ratas antwortete auf die Frage, ob die Zentrumspartei als Juniorpartner zur Verfügung stünde, mit "natürlich".
Zentrumspartei und Reformpartei regierten die ehemalige Sowjetrepublik in den vergangenen knapp drei Jahrzehnten abwechselnd, teilweise auch gemeinsam in einer Koalition. Beide Parteien unterstützen die EU- und Nato-Mitgliedschaft des Landes und stehen für eine Begrenzung der öffentlichen Ausgaben.
(U.Beriyev--DTZ)