UNO warnt nach Zerstörung des Kachowka-Staudamms vor humanitärer Krise
Nach der teilweisen Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine wächst die Angst angesichts der Überschwemmungen und der Gefahr eines möglichen nuklearen Unfalls. Zehntausende Menschen wurden am Dienstag auf der ukrainischen und der von Russland besetzten Seite des Flusses Dnipro in Sicherheit gebracht. Washington warnte vor "womöglich vielen Toten", die UNO sprach von humanitären Folgen für "hunderttausende Menschen".
Der in russisch besetztem Gebiet liegende Kachowka-Staudamm am Dnipro war bei einer Explosion in der Nacht zum Dienstag teilweise zerstört worden, große Mengen Wasser traten aus. Nach Angaben des ukrainischen Innenministers, Igor Klymenko, wurden 24 Ortschaften überschwemmt. In der flussabwärts liegenden Stadt Cherson brachten einige Einwohner ihre Habseligkeiten in Sicherheit.
Ukrainische Behörden leiteten am Dienstag die Evakuierung von rund 17.000 Menschen ein. Auf der von Russland besetzten Seite des Flusses Dnipro sollten weitere 25.000 Anwohner fortgebracht werden. Auf Drängen der Ukraine und Russlands wurde für Dienstag eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats anberaumt.
Angesichts einer drohenden Umweltkatastrophe warnten die Vereinten Nationen vor "ernsten humanitären Folgen für hunderttausende Menschen auf beiden Seiten der Frontlinie". Über Nacht hätten tausende Menschen ihre Häuser verloren, weitere tausende hätten keinen Zugang zu Wasser, Nahrung und einer Grundversorgung.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba teilte nach einem Telefonat mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell mit, die EU sei bereit "die nötige Unterstützung und die humanitäre Hilfe" zu liefern, um die Folgen der von Russland verursachten Katastrophe zu bewältigen.
Der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats des Weißen Hauses, John Kirby, sprach von "womöglich vielen Toten" durch die Explosion am Staudamm. Allerdings könnten die USA die Lage noch nicht abschließend bewerten. "Wir versuchen weiter Informationen zu sammeln und mit Ukrainern zu sprechen", sagte er.
Russland und die Ukraine machten sich gegenseitig für die teilweise Zerstörung des Staudamms verantwortlich. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf Russland vor, den Damm "vermint" und dann "gesprengt" zu haben. Damit habe Russland auch einen "Ökozid" begangen. Der Kreml sprach von einer "vorsätzlichen Sabotage" Kiews.
Selenskyj betonte allerdings, der Vorfall habe keine Auswirkungen auf die Gegenoffensive seines Landes zum Zurückdrängen der russischen Armee. "Die Explosion des Damms hat nicht die Fähigkeit der Ukraine beeinträchtigt, seine eigenen Gebiete von der Besatzung zu befreien", versicherte der Staatschef am Dienstag im Onlinedienst Telegram.
International wuchs die Sorge, dass auch die Kühlung des Atomkraftwerks Saporischschja durch den Dammbruch in Gefahr sein könnte. IAEA-Chef Grossi warnte, in "ein paar Tagen" könne der Pegel des Stausees so niedrig sein, dass das Wasser nicht mehr zum Kraftwerk gepumpt werden könnte. Der Dnipro versorgt das Atomkraftwerk mit Kühlwasser. Grossi kündigte für kommende Woche einen Besuchs des AKW an.
Der von Russland eingesetzte Leiter des AKW, Juri Tschernitschuk, erklärte im Onlinedienst Telegram, "der Wasserstand im Kühlbecken hat sich nicht verändert".
UN-Generalsekretär António Guterres nannte den Vorfall eine "weitere zerstörerische Folge der russischen Invasion in der Ukraine", hob allerdings hervor, die UNO habe "keinen Zugang zu unabhängigen Informationen über die Umstände, die zu der Zerstörung" des Dammes führten.
International wurde die Zerstörung des Kachowka-Damms scharf kritisiert. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einer "neuen Dimension" im Krieg. Die Beschädigung sei etwas, "das zu der Art und Weise passt, wie Putin diesen Krieg führt", sagte Scholz in Berlin. Bundesaußenministern Annalena Baerbock (Grüne) warf Russland vor, einen "Staudamm in der Nähe eines Kernkraftwerks als Kriegswaffe" zu missbrauchen.
Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte den Angriff scharf. Die Zerstörung gefährde tausende Zivilisten und verursache schwere Umweltschäden, schrieb er im Kurzbotschaftendienst Twitter. EU-Ratspräsident Charles Michel schrieb: "Die Zerstörung ziviler Infrastruktur gilt klar als Kriegsverbrechen - und wir werden Russland und seine Stellvertreter zur Verantwortung ziehen."
(Y.Ignatiev--DTZ)