
Syrische Kurden melden Flucht von hunderten IS-Familien aus Lager

Die türkische Offensive in Nordsyrien hat nach Angaben der kurdischen Autonomieverwaltung zur Flucht von fast 800 Angehörigen von Kämpfern der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) geführt. 785 Frauen und Kinder seien aus einem Lager bei Ain Issa geflohen, nachdem es in der Nähe türkische Luftangriffe gegeben hatte, teilte die Autonomieverwaltung am Sonntag mit. International wuchs der Druck auf die Türkei wegen der Militäroffensive: Berlin und Paris schränkten ihre Waffenexporte ein.
Die Verwaltung der halbautonomen Kurdenregion erklärte, die Insassen hätten die Wachen angegriffen und die Tore geöffnet. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte verließ ein Teil der Wachen das Lager, nachdem es in der Nähe türkische Luftangriffe und Gefechte mit kurdischen Kämpfern gegeben hatte. Die Insassen des Lagers würden nun "nach und nach" fliehen, erklärte die Beobachtungsstelle.
Seit Beginn der türkischen Offensive gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) am Mittwoch besteht international die Sorge, dass die tausenden inhaftierten IS-Kämpfer und ihre Angehörigen die Chance nutzen, um aus kurdischer Haft zu fliehen. In den kurdischen Gefängnissen in Nordsyrien sind rund 12.000 IS-Kämpfer inhaftiert, darunter bis zu 3000 Ausländer. Ein Teil der Gefängnisse liegt unmittelbar in der Kampfzone.
In Internierungslagern in der Region leben zudem rund 12.000 ausländische Frauen und Kinder. Viele von ihnen waren im März bei der Eroberung der letzten IS-Bastion Baghus im Osten Syriens durch die YPG-Miliz in Gefangenschaft geraten. Die syrische Kurdenmiliz ist ein wichtiger Verbündeter des Westens im Kampf gegen die Dschihadisten, gilt Ankara aber wegen ihrer engen Verbindungen zu kurdischen Rebellen in der Türkei als Bedrohung.
International wächst seit Tagen die Kritik an der Türkei. Nachdem mehrere EU-Staaten ihre Rüstungsexporte an Ankara auf Eis gelegt hatten, schränkten auch Deutschland und Frankreich am Samstag ihre Waffenlieferungen ein. Die Bundesregierung werde "keine neuen Genehmigungen für alle Rüstungsgüter, die durch die Türkei in Syrien eingesetzt werden könnten, erteilen", erklärte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD).
Das französische Außen- und das Verteidigungsministerium erklärten ebenfalls, alle Waffenexporte, die von der Türkei in Syrien eingesetzt werden könnten, mit sofortiger Wirkung auszusetzen. Der EU-Außenministerrat soll am Montag über eine koordinierte europäische Haltung in dieser Frage entscheiden. Frankreich hatte sich bereits zuvor für EU-Sanktionen ausgesprochen.
Bei der Offensive wurden auf syrischer Seite laut der Beobachtungsstelle bereits 104 kurdische Kämpfer und 52 Zivilisten getötet, während mehr als 130.000 Menschen in die Flucht getrieben wurden. Allein am Sonntag wurden ihren Angaben zufolge mindestens 14 Zivilisten getötet, darunter fünf Menschen in einem Auto, das protürkische Milizen bei Ain Issa unter Beschuss nahmen.
Bei Gefechten in Tal Abjad hätten die syrischen Milizionäre zudem am Samstag neun Zivilisten "hingerichtet", erklärte die Beobachtungsstelle, die ihre Informationen von Aktivisten vor Ort bezieht. Nach kurdischen Angaben war auch eine kurdische Politikerin und ihr Fahrer unter den Opfern.
In der Nähe von Tal Abjad habe die türkische Armee die Ortschaft Suluk erobert, teilte die Beobachtungsstelle mit. Demnach hat die YPG-Miliz bisher 36 Dörfer verloren. In der Grenzstadt Ras al-Ain sei es ihr dagegen gelungen, die türkischen Angreifer zurückzudrängen. Auf türkischer Seite wurden nach Angaben der Behörden bisher 18 Zivilisten durch YPG-Beschuss getötet.
Aus Protest gegen die Offensive gingen am Samstag in zahlreichen europäischen Städten zehntausende Menschen auf die Straße. In Deutschland gab es unter anderem in Frankfurt, Köln, Hamburg und Berlin Kundgebungen. In Paris nahmen nach Angaben der Veranstalter mehr als 20.000 Menschen an einer Demonstration teil. Auch in Schweden, Belgien und Zypern fanden Protestaktionen statt.
(P.Tomczyk--DTZ)